«Irgendwann kaufe ich mir eine Kaffeemaschine mit Touchscreen!»
Werner Hänggi ist 58 Jahre alt und Software-Ingenieur und Accessibility-Experte bei AdNovum. In seiner Freizeit hört Werner Hänggi gerne Musik und Audiobücher und widmet sich seiner zweiten grossen Leidenschaft: der Physik. Das Studium absolvierte er ganz locker nebenher. Zusammen mit einem Projektteam half er IngCH in der Umsetzung der neuen, barrierefreien Website. Denn Werner Hänggi ist blind. Er leidet an einer Retinitis pigmentosa, einer genetischen Netzhauterkrankung, bei der die Sehzellen nach und nach absterben. Die Folgen sind Nachtblindheit, Tunnelblick, abnehmende Sehschärfe bis hin zur Erblindung. Werner Hänggi ist praktisch ganz erblindet, bei sehr starker Lichteinstrahlung kann er noch leichte Unterschiede zwischen hell und dunkel wahrnehmen. IngCH spricht mit ihm über seine Begeisterung für die Informatik, wie er zu diesem Berufsfeld gekommen ist und welche Hürden er im Berufsalltag durch seine Sehbehinderung zu überwinden hat.
Werner, danke, dass Du Dir Zeit für uns nimmst! Als Erstes möchte ich von Dir wissen, wieso Du Dich für die Informatik entschieden hast und ob Du schon immer Informatiker werden wolltest?
Werner Hänggi: (Lacht.) Ich bin eigentlich über Umwege zur Informatik gekommen. Ursprünglich wollte ich Physik studieren, denn ich war von der Astronomie, dem Apollo-Programm und der Mondlandung fasziniert. Das war zu meiner Jugendzeit ein Riesenthema! Doch dann fragte ich mich, welche berufliche Zukunft ich mit einem Physikstudium hätte und ob ich das Studium bewältigen könnte. Unser Mathematiklehrer gab uns damals einen Einführungsprogrammierkurs und schaffte es, mein Notizgerät mit Braillezeile an die damaligen Apple-2-Computer anzuschliessen. So konnte auch ich etwas programmieren, und ich entschied mich, an der ETH Zürich Informatik zu studieren.
Wie hast Du das Informatikstudium erlebt?
Es war schon eine Herausforderung! Ich war einer der ersten Studierenden, denn das Fach war erst gerade gegründet worden, und wir waren, glaube ich, der zweite oder dritte Jahrgang, der mit dem Studium begann. Insgesamt gab es nur vier Professoren, und ich war auch der erste Blinde an der ETH, der Informatik studierte. Damals lief noch alles analog, ich musste alle Unterrichtsunterlagen wie Skripte, Bücher etc. zuerst von der SBS (der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte) in Blindenschrift übersetzen lassen. Meistens dauerten die Übersetzungen so lange, dass ich die Unterlagen erst nach den Prüfungen zurückerhielt. Ich musste also improvisieren.
Wie sah das aus?
Zum Glück hatte ich Studienkollegen, die mich unterstützten, mir ihre Notizen vorlasen oder Unterlagen diktierten. Zudem hatte ich immer ein Notizgerät mit Braillezeile dabei, damit ich alles aufschreiben konnte. Das Gerät wog zirka 6 Kilogramm und hatte Akku für vielleicht eineinhalb Stunden, ich musste also immer auch das Ladegerät mitschleppen. Mit einem Kassettenrekorder konnte ich zusätzlich einige Vorlesungen aufzeichnen. Einer der Professoren war auch sehr hilfreich, er las immer alles laut vor und beschrieb, was er an die Tafel schrieb, damit auch ich es mitbekam. Aber es war schon sehr schwierig zu stemmen, manchmal stand ich kurz vor Studienabbruch.
Braillezeile Die Braillezeile ist ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen, das Zeichen in Brailleschrift darstellt. Üblicherweise werden sie durch Screenreader angesteuert, die Zeichen in ausgewählten Bildschirmbereichen auslesen und in Computerbraille darstellen. Die Zeichen der Brailleschrift werden mit Punkten dargestellt, welche der Nutzer einer Braillezeile mit den Fingern ertasten kann. Braillezeilen sind teuer, das Gerät, welches Werner Hänggi nutzt, kostet rund 6000 Franken.
Und trotzdem hast Du nicht aufgehört und bist nun seit 30 Jahren als Informatiker tätig. Was sind Deine wichtigsten Hilfsmittel, die Du tagtäglich im Berufsalltag brauchst?
Der Screenreader ist einer der wichtigsten Unterstützer. Zusätzlich habe ich eine Braillezeile, die ich an den Computer anschliessen kann. Aber der Screenreader ist natürlich schon sehr praktisch, denn wenn man stundenlang in Blindenschrift lesen muss, dann tut einem irgendwann der Finger weh. Deshalb lasse ich mir vieles vorlesen. Und sonst ist auch mein Smartphone im Alltag sehr wichtig!
Screenreader Ein Screenreader ist eine Software, die Blinden und Sehbehinderten eine alternative Benutzerschnittstelle anstelle des Textmodus oder anstelle einer grafischen Benutzeroberfläche bietet. Ein Screenreader vermittelt die Informationen, die gewöhnlich auf dem Bildschirm ausgegeben werden, mithilfe nicht-visueller Ausgabegeräte, also akustisch per Audioausgabe oder taktil über eine Braillezeile. Wenn der gelesene Text über die Soundkarte ausgegeben wird, heisst das, dass der Text dem blinden oder sehbehinderten Menschen vorgelesen wird. Im Fall der Braillezeile kann der Nutzer den Inhalt selbst in Blindenschrift lesen.
Das Smartphone?
Ja, es lässt mich viel unabhängiger sein. Mithilfe des Smartphones kann ich viele Dinge allein erledigen, bei denen ich früher auf Hilfe angewiesen war. Heute hat man ja alle Unterlagen zentral auf dem Handy gespeichert, so habe ich zum Beispiel beim Reisen alle wichtigen Dokumente dabei und bin viel autonomer. Auch E-Banking funktioniert über das iPhone wunderbar. Mein ganzes Leben ist eigentlich auf dem Smartphone zu finden! Zurzeit bin ich mir am Überlegen, ob ich mir eine neue Kaffeemaschine kaufen will. Es gibt eine neue App, die es anscheinend möglich macht, Touchscreen-Benutzeroberflächen per Audioausgabe lesen zu lassen. Ich kann normalerweise nur Kaffeemaschinen bedienen, die manuelle Knöpfe haben, ich muss ja fühlen können, wo und was ich drücke. Beim Touchscreen geht das nicht, da sie keine Sprachausgabe haben. Mit dieser neuen App soll das möglich sein, und das ist natürlich sehr cool!
Heute gibt es also viele Technologien, die Leuten mit Sehbehinderung helfen, unabhängiger zu sein. Es gibt aber sicher auch noch viele Defizite und Luft nach oben, oder?
Auf jeden Fall. Es hat sich viel getan in den letzten Jahren, angefangen mit VoiceOver, dem Screenreader von Apple, der direkt ins Betriebssystem Mac OS X 10.4 (Tiger) integriert wurde, bis hin zu all den Apps, die uns heute den Alltag vereinfachen. Aber es gibt immer noch sehr viele Produkte, die nicht accessible, also vom Screenreader nicht richtig lesbar sind und mir so die Navigation auf dem Bildschirm unmöglich machen. Das sind nicht nur professionelle Programme, die ich bei der Arbeit brauche, auch alltägliche Produkte und Websites sind noch nicht zu 100 Prozent ausgereift und barrierefrei. Das gängige Microsoft Teams für virtuelle Meetings zum Beispiel. Ich habe es bis heute nicht geschafft, eigenständig einen Termin aufzusetzen mit dem Tool, es geht einfach nicht. Aber vielleicht bin ich einfach zu blöd dafür! (Lacht.)
Das glaube ich nicht! Und trotz all diesen Hindernissen hast Du der Informatik nie abgeschworen?
Nein, ich denke, gerade für Leute mit Sehbehinderung ist die Informatik ein Segen. Man ist an der Quelle der neuen Technologien, und ein Beruf in diesem Bereich ist optimal. Wenn ich als Erstes Physik studiert hätte, wäre ich erst sehr spät mit einem Computer in Berührung gekommen. Hingegen ist heute ein Physikstudium ohne Programmierkenntnisse undenkbar. Ich würde mir wünschen, dass mehr Sehbehinderte und Blinde sich getrauen, ein Informatik- oder ein naturwissenschaftliches Studium in Angriff zu nehmen. Wenn ich das vor 30 Jahren geschafft habe, dann werden sie das heute auch schaffen! Zu meiner Zeit gab es eigentlich nur drei Berufe, die für Blinde als Arbeit infrage kamen: Telefonist, Masseur oder Korbflechter. (Lacht.) Heute hat man so viel mehr Möglichkeiten, und ich denke, die sollte man auskosten!
Interview: Myriam Hofmann
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16. mars 2018