«Wir brauchen Leute, die Neues kreieren»
Prof. Dr. Christina Colberg leitet den Fachbereich Natur-, Human- und Gesellschaftswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Neben ihrer Haupttätigkeit doziert sie an der ETH Zürich am Departement Umweltsystemwissenschaften und ist seit der Fusion mit NaTech Education Vorstandsmitglied bei IngCH. Die studierte Chemikerin und promovierte Atmosphärenwissenschaftlerin ist der Überzeugung, dass wir MINT-Fachkräfte benötigen, um die grossen Probleme unserer Gesellschaft anzugehen. Im Interview erzählt sie, was ihre Tätigkeit bereichert, weshalb es das Wort Alltag bei ihr kaum gibt und was ihre Wünsche und Ziele als Multiplikatorin im MINT-Bereich sind.
Frau Colberg, Sie leiten seit 2004 den Fachbereich Natur-, Human- und Gesellschaftswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Was genau beinhaltet diese Aufgabe?
Der Kernauftrag eines solchen Fachbereichs einer Pädagogischen Hochschule ist ein vierfacher Leistungsauftrag. Wir machen Lehre für unsere Studierenden, sprich für angehende Lehrpersonen. Wir bieten Weiterbildungen und Dienstleistungen für Lehrpersonen an und machen Forschung. Als Fachbereichsleitung bin ich für die Kolleg:innen innerhalb dieses Fachbereichs auf Kindergartenunterstufe (KGU) und Primarstufe (PS) verantwortlich. Der Bereich Sekundarstufe 1 und 2 wird von meiner Kollegin Nicole Schwery geleitet. Die Studierenden absolvieren bei uns die inhaltliche und fachdidaktische Ausbildung zum Fach Natur, Mensch und Gesellschaft. Dieses breit ausgerichtete Fach beinhaltet einerseits naturwissenschaftliche Aspekte, die meine Beheimatung sind, aber andererseits auch Geografie, Geschichte, Ethik und Religion und vieles mehr. In der Zwischenzeit bin ich verhältnismässig wenig in der Lehre tätig. Ich leite aber ab und zu Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrpersonen und bin neben der gesamten Koordination und den Managementaufgaben in verschiedene Forschungsprojekte involviert.
Können Sie mir zum Forschungsbereich mehr erzählen?
Die Forschung an Pädagogischen Hochschulen beinhaltet zwei Bereiche: den bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Bereich, also Lehren und Lernen, und den fachdidaktischen Bereich, in welchem fachspezifische Fragestellungen untersucht werden. Die fachdidaktische Forschung untersucht, was besonders lernwirksame Settings sind. Und genau in diesem Bereich bin ich aktiv. Wir untersuchen beispielsweise, wie wir die Kluft zwischen Wissen und Handeln im Bereich der Umweltbildung verkleinern können. Normative Aspekte spielen dabei eine grosse Rolle, sodass schliesslich eine Handlung ausgelöst wird. Ein einfaches Beispiel: Wir wissen alle, dass Autofahren nicht umweltfreundlich ist, aber machen es trotzdem. Das Wissen allein ist offensichtlich nicht der Schlüssel zum Erfolg. Ich kann das auch anhand eines unserer Forschungsprojekte darlegen: In einem vergangenen Nationalfonds-Projekt wurden Kinder eine Woche lang zum Thema Klimawandel unterrichtet. Eine Gruppe erhielt den Unterricht im Schulzimmer, die andere Gruppe im Oberengadin. Obwohl die Lernziele identisch waren, zeigte die Untersuchung des Wissenserwerbs keinen Unterschied zwischen drinnen und draussen unterrichteten Kindern. Allerdings war die Motivation zur Handlung, etwas gegen die Klimaerwärmung zu unternehmen, bei den Kindern im Oberengadin grösser. Solche Forschungssettings sind zwar wirkungsvoll, aber auch zeitlich und finanziell sehr aufwendig, da sie die Beteiligung von Schulen, die Durchführung des Unterrichts und entsprechende Messinstrumente erfordern.
Ganz ursprünglich haben Sie Chemie studiert. Warum?
Ich hatte einen tollen Chemielehrer und fand das Fach in der Schule total faszinierend. Ich interessierte mich schon damals für Naturwissenschaften, Chemie bot mir das breiteste Spektrum. Nach Studienbeginn war mir schnell klar, dass viele Chemiestudierende in Deutschland darauf abzielen, als Laborleitung bei grossen Unternehmen zu arbeiten, was nicht meinen Interessen entsprach. Ich entschied mich, mein zweites Studienjahr im Hauptstudium in den USA zu absolvieren, wo ich mich intensiv mit Umweltchemie beschäftigte und feststellte, dass dies meine Leidenschaft ist. Nach meiner Rückkehr begann ich meine Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für Chemie (Abteilung Atmosphärenchemie). Vor etwa 25 Jahren zog ich dann in die Schweiz, um meine Dissertation an der ETH Zürich im Bereich der Atmosphärenwissenschaften abzuschliessen. Während meiner Zeit an der ETH Zürich erweiterte sich mein Horizont enorm, als ich erkannte, dass die Welt viel mehr zu bieten hat als nur Chemie. Ich entdeckte das Departement für Umweltsystemwissenschaften und realisierte, dass ich gerne Umweltnaturwissenschaften studiert hätte, wenn mir dies als Abiturientin bewusst gewesen wäre.
Sie dozieren nun aber auch an der ETH für die Umweltnaturwissenschaften.
Ja, an der ETH besteht die Möglichkeit für Studierende oder Absolvent:innen der Umweltsystemwissenschaften, eine didaktische Zusatzausbildung zu absolvieren – ähnlich dem höheren Lehramt in den klassischen Naturwissenschaften wie Biologie oder Physik. Allerdings ist diese Ausbildung etwas weniger umfangreich und nicht ausschliesslich für angehende Lehrerinnen und Lehrer an Schulen gedacht. Auch Studierende, die ein Interesse an Umweltbildung haben, können daran teilnehmen. Absolvierende erhalten ein Didaktik-Zertifikat und haben dann die Chance, an höheren Fachschulen, Berufsfachschulen, Fachhochschulen oder bei Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten. Dieses Angebot wird in unserem Departement für Umweltsystemwissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Lehr- und Lernforschung umgesetzt.
In Ihrem Alltag haben Sie also mit Menschen mit verschiedensten Hintergründen und jeglichen Alters zu tun?
Das könnte man so sagen, ja. Selbst mit Kindergartenkindern, wenn ich beispielsweise in der Forschung unterwegs bin. Das erdet einen dann auch, um zu sehen, was in den verschiedenen Altersklassen möglich ist. Ich finde es eine sehr schöne Abwechslung, sowohl an der PH Thurgau in Kreuzlingen als auch an der ETH Zürich tätig zu sein, und mit den unterschiedlichen Studierenden zu arbeiten, ist spannend. Eine klassische Arbeitswoche gibt es bei mir eigentlich nicht, meine Anspruchsgruppen sind sehr vielfältig, was meinen Beruf extrem bereichert. Ich empfinde es als ein Privileg, in einem Bereich arbeiten zu können, wo man sich Gedanken darüber machen kann, wie wir in unserer vernetzten Gesellschaft funktionieren und wie man sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Kindern ein Bewusstsein schaffen kann.
Welchen Rat würden Sie jungen Menschen für die Berufs- und Studienwahl geben?
Ich denke, es ist entscheidend, den eigenen Interessen zu folgen und zu erkunden, was einen wirklich interessiert. Besonders für Schülerinnen und Schüler, die nach der Volksschule eine Berufslehre beginnen, hängt viel von den Lehrpersonen ab, die sie bei der Berufswahl begleiten. Auch in den Kantonsschulen ist es nicht viel anders, obwohl dort die akademischen Fächer gut vertreten sind. Aber wie kommt ein junger Mensch dazu, Maschinenbau und nicht Mathematik zu studieren? In diesem Fall sind Technik- und Informatikwochen und weitere Initiativen sehr wichtig, denn sie zeigen Jugendlichen die Vielfalt an Berufsbildern auf.
Was ist Ihr Antreiber, um sich für den MINT-Nachwuchs zu engagieren?
Wir brauchen naturwissenschaftliche und technische Fachkräfte, um unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Ich halte es für entscheidend, dass junge Menschen Ausbildungen in diesen Bereichen verfolgen. Bei komplexen Problemstellungen, wie beispielsweise dem Klimawandel, brauchen wir nicht nur Technologie, sondern auch Menschen, die kreativ denken können. Ich denke auch, dass wir junge Menschen viel mehr über den Kontext und die Erfolgsgeschichten abholen und für den Fachbereich begeistern können. Die positiven Aspekte im Zusammenhang mit der Wissenschaft sollten mehr betont werden. Und ich glaube auch, dass wir insbesondere Frauen mit der Verknüpfung des technischen und naturwissenschaftlichen Bereichs über die Sustainable Development Goals (SDGs) motivieren könnten. Denn schliesslich ist fast jedes Problem, welches mit den Wissenschaften und der Forschung verknüpft ist, von sozialem oder gesellschaftlichem Ursprung.
Springen wir 20 Jahre in die Zukunft: Was ist Ihr Wunsch für den MINT-Bereich in der Schweiz?
Eine Erkenntnis in der Gesellschaft, wie wichtig dieser Bereich insbesondere in seiner Wechselwirkung mit der Gesellschaft ist. Wir brauchen Menschen, die Neues kreieren und somit nachhaltige Innovation schaffen. Wenn das gesellschaftlich verankert wird, dann haben wir mit grosser Wahrscheinlichkeit auch genügend Menschen, die sich den tatsächlichen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen. Und dann sind wir meiner Meinung nach auf dem richtigen Weg.
Video-Impressionen aus dem Forschungsprojekt im Oberengadin:
Interview: Nathalie Künzli, Projektleiterin IngCH
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