«Eine Rehkitzrettung ist einfach ein gigantisches Erlebnis!»
Titelbild: Ein gefundenes Rehkitz, Foto von Daniel Rimann, Rehkitzrettung Schweiz
Bruno Holliger ist Vorstandsmitglied im gemeinnützigen Verein Rehkitzrettung Schweiz und leitet das Ressort Forschung und Technik. Ebenfalls unterstützt er in seiner Funktion das Ressort Ausbildung, welches vom Ausbildungsverantwortlichen Alain Marti geführt wird. Allein in diesem Jahr lassen sich 160 Personen aus der ganzen Schweiz jeglichen Alters und mit verschiedenen beruflichen Hintergründen zu Drohnenpilot:innen ausbilden. Gemeinsam mit den weiteren Helfer:innen, Landwirt:innen und Jäger:innen verbindet sie ein Ziel: möglichst viele Rehkitze vor der Mähmaschine retten. Bruno Holliger erzählt im Interview, was für ein gigantisches Gefühl eine Rehkitzrettung auslöst und wie viel technisches Know-how, Organisationsgeschick und Flexibilität hinter den Kulissen des Vereins stecken.
Bruno Holliger, wie sind Sie zu Ihrem Engagement bei der Rehkitzrettung Schweiz gekommen?
Können Sie mir etwas über die Entwicklung der Rehkitzrettung Schweiz erzählen?
Wichtig ist für uns aber, dass die Rehkitzsuche grössenunabhängig ohne finanzielle Konsequenzen für den Jäger oder die Landwirtin bleibt. Wir sind ein ehrenamtlicher Verein oder besser gesagt ein riesiges Projekt mit vielen freiwilligen Helfer:innen.
Die Rettung beginnt damit, dass sich die Landwirtin bei der für das Gebiet zuständigen Jagd meldet und sie über die Mähplanung informiert. Der Jäger meldet sich dann bei seiner Drohnenpilotin und klärt ab, ob sie den Einsatz übernehmen kann. Am Rettungstag sind immer mindestens zwei Personen vor Ort: ein Jäger und eine Drohnenpilotin. Die Suche beginnt früh am Morgen auf dem Feld, teilweise sogar schon in der Nacht, da die Sonne die Suche mit der Wärmebildkamera erheblich erschwert oder sogar verunmöglicht. Die Pilotin fliegt als Erstes mit der Drohne, welche mit einer Wärmebildkamera ausgerüstet ist, die Wegpunkte ab. Die Wegpunkte hat sie zuvor bereits eingelesen und eventuell auch schon einmal abgeflogen, etwa am Tag vor der Rettung. Je nach Objektiv der Kamera kann beispielsweise die Flughöhe variieren, die auch mit den Wegpunkten festgelegt wurde. Meist liegt die Höhe zwischen 60 und 70 Metern. Das Abfliegen kann je nach Feldgrösse unterschiedlich lange dauern, für eine Hektare etwa zwei bis drei Minuten. Gleichzeitig kontrolliert der Jäger, ob er auf dem Wärmebild etwas Auffälliges erkennen kann. Erscheint ein gelber Punkt im Bild, liegt mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Rehkitz im Gras, und der Fund wird markiert. Jetzt beginnt der aufwendigere Teil der Suche: Die Pilotin leitet den Jäger über Funk zu der auffälligen Stelle. Das Rehkitz wird mit einer Harasse gesichert oder weg vom Feld zur Mutter gebracht. Meistens befinden sich Zwillinge oder mehrere Kitze im Feld. Ist also das erste Kitz gefunden und gerettet worden, wird die Suche nach weiteren fortgesetzt. Sobald sich das Team sicher ist, dass sich kein Rehkitz mehr auf dem Feld befindet, kann die Landwirtin mähen. Und für unsere Retter:innen geht es weiter zum nächsten Feld. Pro Einsatz kann es sein, dass man bis zu 20 Felder absucht, dann aber meist mit einem grösseren Team von vier oder fünf Personen.
Was sind die grössten Herausforderungen bei der Suche?
Unsere Rettungsteams müssen sehr flexibel sein, damit die Suchorganisation funktioniert. Je nach Wetter kann es zu spontanen Einsätzen kommen. Abhängig vom Beruf finden diese vor der eigentlichen Arbeit statt. Die Tage sind also entsprechend lang und mit wenig Schlaf zu meistern. Ausserdem dauern die Einsätze über mehrere Wochen, bis alle Felder gemäht werden konnten. Pro Einsatz sind meistens mehrere Felder abzusuchen, das kann herausfordernd und kräftezehrend sein. Doch das Erlebnis, bei einer solchen Rettung dabei zu sein, überdeckt die Müdigkeit, denn es ist einfach ein gigantisches Erlebnis. Und man erlebt die schönsten Sonnenaufgänge.
Eine Herausforderung stellen die sich ändernden Gesetze und Bestimmungen dar. Seit Januar 2023 gilt die neue EASA-Drohnenregulierung der EU, die beispielsweise vorgibt, dass bei Bestandsdrohnen ein Abstand von 150 Metern zu bewohnten Gebieten eingehalten werden muss. Gerade in urbanen Gegenden sind Felder nahe am Siedlungsgebiet vorzufinden, die wir folglich ohne neue Drohnen, die über eine entsprechende Zertifizierung verfügen, nicht mehr abfliegen durften. Deshalb suchten wir mit dem Bundesamt für Zivilluftfahrt eine mögliche Lösung. Das Bundesamt verfeinerte daraufhin die Regelung und hielt fest, dass das Fliegen im Umkreis von 100 Metern zum Siedlungsgebiet, sofern sich darin nicht eine Personenansammlung von mehr als zehn Personen befindet, trotzdem erlaubt bleibt. Das war für uns ein riesiger Segen, da wir so auch mit den Bestandsdrohnen in urbanen Gegenden weiterfliegen können. Eine weitere Herausforderung ist das negative Image von Drohnen: Sie machen Lärm und stören uns Menschen in der Privatsphäre. Bei unseren Schulungen achten wir darauf, dass wir die angehenden Drohnenpilot:innen darauf sensibilisieren, möglichst niemanden zu stören. In dieser Hinsicht ist die Rehkitzrettung ein super Anwendungsfall für den Einsatz von Drohen, nämlich für die Tierrettung. Und dazu kommt noch: Diese Rehkitze sind einfach wahnsinnig süss (lacht).
Wie verläuft die Ausbildung als Drohnenpilot:in bei der Rehkitzrettung Schweiz?
Wenn die Rettung losgeht, ist es wichtig, dass die Pilot:innen die Abläufe kennen und sich schon im Vorfeld mit ihrer Drohne auseinandergesetzt haben, sodass sie beispielsweise einen Wegpunkteflug ohne grössere Schwierigkeiten programmieren und abfliegen können. Deshalb gibt es eine Theorieprüfung und eine praktische Prüfung. Die vorhergehende Ausbildung ist in acht Module unterteilt. Ziel dabei ist es, die Drohne besser kennenzulernen. Neben diesen acht Modulen bieten wir auch Einführungstage für Personen an, die zuvor noch keine Berührung mit Drohnen hatten und an diesem Tag zum ersten Mal fliegen. Das ist immer toll, zu sehen, wie der erste Flug die Begeisterung bei den Teilnehmer:innen weckt. Die weiteren Module bestehen neben Praxistagen auch aus E-Learnings oder Webinaren, zum Beispiel über die Grundlagen der Jagd oder das Luftrecht in der Schweiz. Dazu haben wir ein Portal mit Kursübersichten, welches wir während der Pandemie aufgebaut hatten und nun weiterhin sehr stark nutzen. So können wir die Praxistage vollumfänglich für die Drohnenflüge nutzen.
Über Bruno Holliger: Bruno Holliger ist seit 2018 als Vorstandsmitglied von Rehkitzrettung Schweiz für das Ressort Forschung und Technik zuständig. Der gelernte Kaufmann absolvierte an der Hochschule für Technik in Zürich ein Informatikstudium und arbeitet in der Informatikbranche.
Im August 2024 finden kostenlose Informationsveranstaltungen von der Rehkitzrettung Schweiz statt. Mehr Informationen finden Sie unter https://www.rehkitzrettung.ch.
Interview: Nathalie Künzli, Projektleiterin IngCH